Junger Mann holt sein Abitur nach auf dem zweiten BildungswegEin Erfahrungsbericht über das Abitur auf dem zweiten Bildungsweg von Till R., 28 Jahre alt

„Was denn, noch mal zur Schule gehen? Du? In deinem Alter?“ Mit dieser Reaktion werden viele konfrontiert, die den Entschluss gefasst haben, nach längerer Abstinenz ein zweites Mal die Schulbank zu drücken. Bei allem Unverständnis und aller Verwunderung im Umfeld gab und gibt es für mich allerdings keinen Grund, an meiner Entscheidung zu zweifeln – erst recht nicht, wenn schließlich alles bestens überstanden und das Abitur mit Bravour gemeistert wurde. Rückblickend fällt mein Fazit ausschließlich positiv aus und bestätigt meine während der drei Jahre gewonnenen Eindrücke. Denn die Chancen des zweiten Bildungswegs haben sich als realistisch erwiesen und mir ganz neue Möglichkeiten eröffnet. Ich habe nichts bereut!

Der Klassiker: ein schwerer Anfang beim Abitur auf dem zweiten Bildungsweg

Grundsätzlich bedarf es natürlich einer großen Überwindungskraft. Zuerst die eigene Person betreffend, anschließend das Umfeld. Eltern, Freunde, entfernte Bekannte, sie alle haben natürlich kluge oder auch weniger kluge Einschätzungen parat, wie das denn so funktioniert in der Erwachsenenbildung. Das ist natürlich gut gemeint, doch von all den mir zu Ohren gekommenen Klischees über zur Schule gehende Erwachsene hat sich nicht eins bestätigt: keine unwilligen Klassenkameraden, keine aufs Abstellgleis geschobenen Lehrkräfte (im schlimmsten Falle kurz vor der Pension), kein niedriges Niveau a là „Ich-sitze-mein-Abi-ab-und-schau-mich-dann-mal-um“ und schon gar keine Klassenausflugs-Atmosphäre. Denn die Anforderungen entsprechen haargenau denen des ersten Bildungswegs. Ausnahmen werden nicht gemacht. Zum Glück! Nichts wäre schädlicher und würde mehr an die Substanz gehen, als die versäumte Schulzeit nachzuholen im Wissen, nicht nur den zweiten, sondern gleich noch einen zweitklassigen Bildungsweg eingeschlagen zu haben. Dass dem nicht so ist, wurde vom Gesetzgeber eingerichtet – die eigene Karriere baut eben immer auf einem soliden Fundament auf. Dann lohnt sich auch die Leistungsbereitschaft.

Struktur von Beginn an – so wird das was mit dem Abitur

Zwar unterscheiden sich die detaillierten Förderungsmöglichkeiten je nach Bundesland, doch sind die Zugangsvoraussetzungen einheitlich geregelt. In jedem Fall  muss eine Ausbildung absolviert oder eine Berufstätigkeit ausgeübt worden sein. Das trifft bei den meisten zu. Bei mir etwa lag die Lehre gerade hinter mir, und das gilt für die Mehrheit der angehenden Abiturienten. Ausnahmen sind dabei natürlich nicht ausgeschlossen. Für Interessenten, die über keinerlei berufliche Erfahrung verfügen oder sogar den mittleren Schulabschluss nicht vorweisen können, stehen die sogenannten Vorkurse offen. In diesen werden Grundlagen vermittelt, etwa in der zweiten Fremdsprache oder – äußerst beliebt- in der Mathematik. Die Anforderungen sind hoch. Gleichzeitig stellen sie die perfekte Vorbereitung dar. Wer sich über dieses halbjährige Training für die Oberstufe qualifiziert, hat eine echte Härteprüfung bestanden und kann die Herausforderung Abitur in Angriff nehmen. So gesehen besteht im vermeintlichen Nachteil des Vorkurses eigentlich ein Vorteil von unschätzbarem Wert. Doch Hand aufs Herz, ich war – wie viele andere – einfach nur erleichtert, diese Hürde überspringen zu dürfen. Denen, die es nicht konnten, hat es aber alles andere als geschadet.

Wer soll das mein Abi bezahlen?

Sind die Aufnahmekriterien geregelt, drängt sich eine ganz banale Frage auf: Wie bestreite ich meinen Lebensunterhalt? Durch Schüler-BAföG, lautet die richtige Antwort. Auch hier ist die Regelung in jedem Bundesland unterschiedlich, allerdings nur, was die Rückzahlungsmodalitäten angeht. In der Höhe orientiert sich der Satz an dem von Studenten, ist bei einem bescheidenen Lebenswandel also ausreichend. Mehr kann und sollte man nicht erwarten, schließlich gilt die Konzentration einem hehren Ziel, das kontinuierlich erarbeitet werden muss. Ob nun zur Hälfte als Darlehen – eben genauso wie im regulären Studium – oder als Zuschuss in voller Höhe, der Anspruch auf finanzielle Unterstützung durch BAföG ist garantiert und rechnet auch eine eventuelle Verzögerung mit ein. Niemand muss verzweifeln, sollte er mit zwei gebrochenen Beinen aus dem Skiurlaub kommen und erst im Frühjahr wieder angreifen können. Der Rahmen ist abgesteckt. Nach der gerade aufgegebenen Berufstätigkeit war das für mich selbstverständlich eine ungemein beruhigende Tatsache. So blieb genügend Zeit, um sich nachmittags auf Klausuren oder die abschließenden Prüfungen vorzubereiten. Wie anders gestaltet sich da doch der „klassische“ zweite Bildungsweg, das Abendgymnasium! Nach acht Stunden Pflichterfüllung steht gleich die nächste Schicht an. Mein Respekt vor denen, die sich dieser Doppelbelastung aussetzen, ist riesengroß. Wer es zeitlich einrichten kann, sollte daher unbedingt die ganztägige Option wählen. Der so gegebene Freiraum ist Goldes wert und wirkt sich definitiv auf die Benotung und letztendlich auf ein erfolgreiches Abitur aus.

Grau, aber wichtig ist alle Theorie

Natürlich ist die Situation am Anfang irgendwie seltsam. Das Klassenzimmer, die Lehrer, der Pausenhof – einerseits kennt man das alles noch, andererseits sind auch die fünf, sechs Jahre Abstand nicht einfach zu übergehen. Gerade die Eingewöhnungsphase ist demnach von immer wiederkehrenden Erinnerungen geprägt. Ja, genauso fühlte sich damals schon die siebte Stunde am Freitagmittag an – und die Lateinvokabeln habe sich auch nicht verändert. In dieser Phase klingen einem all die gut gemeinten Ratschläge der Bekannten im Ohr, doch dank straffer Planung und klarer Ansage legt sich das bald. Die notwendige Routine kehrt ein und sorgt für den organisatorischen Ablauf. Schließlich sind die drei Oberstufenjahre stringent aufgebaut. Nach dem ersten Jahr – der zweite Bildungsweg gliedert sich in Semester, also jeweils halbjährige Phasen – ist das Pensum der elften Klasse absolviert. Genau wie auf der Jugendschule stehen in diesem Jahr wichtige Weichenstellungen an: die Abwahl oder Beibehaltung der zweiten Fremdsprache, aber auch die ab der zwölften Klasse neu zu wählenden Kurse. An diesem Punkt ist eine wohlüberlegte Entscheidung gefragt, legt man damit verbindlich fest, welcher Schwerpunkt in der Abiturprüfung behandelt werden soll. Unterschieden werden die beiden Gruppen der natur- bzw. geisteswissenschaftlichen Fächer. Die vieler Orts eingeführte oder zumindest diskutierte Verkürzung der Oberstufe um ein Jahr zeitigt natürlich auch seine Folgen auf dem zweiten Bildungsweg. Mehr Aufwand bei relativ gleichbleibendem Lernstoff – die Ansprüche an erwachsene Schüler sind nicht geringer. Einmal mehr ist daher an den eigenen Willen und die Bereicherung der Persönlichkeit zu appellieren. Im besten Falle geht beides zusammen: die Fortbildung in beruflicher Hinsicht und die Bildung des Charakters.

Chancen und Risiken abwägen vor der Entscheidung zum Abitur nachholen

Die letzten zwei der insgesamt drei Jahre auf dem zweiten Bildungsweg sind mit der traditionellen Oberstufe vergleichbar. Die Klassen sind deutlich kleiner und die Lernatmosphäre ist von unbedingter Konzentration geprägt. Als sehr wohltuend habe ich in dieser Zeit die Lebenserfahrung und die damit einhergehende menschliche Reife meiner Mitstudierenden empfunden – zumal auf der Zielgeraden. Hier zeigte sich besonders die Souveränität und Abgeklärtheit, die ich während meiner ersten Schulkarriere überhaupt nicht kannte. Der Ansporn war bei allen spürbar, nicht nur den drei lange Jahre angepeilten Abschluss endlich zu erreichen, sondern auch den Kritikern und Zweiflern endlich das Gegenteil zu beweisen. Schule lohnt sich eben auch noch als Erwachsener! Das beweist man sich selber und allen anderen. Ich kenne niemanden, der es hinterher bereut hat. Auch wenn es den ein oder anderen gab, der seinen Schulbesuch aus persönlichen Gründen abgebrochen hat, so waren selbst diese Einzelfälle voll des Lobes über die gemachten Erfahrungen. Eine umso wichtigere Erkenntnis in Zeiten, in denen einem hohen Bildungsabschluss mehr Bedeutung als je zuvor entgegengebracht wird. Eine gewisse Unsicherheit hat mich allerdings während der ganzen Zeit verfolgt, auch wenn sie sich im Nachhinein als unberechtigt erwiesen hat. Schließlich stellt der zweite Bildungsweg biografisch gesehen erst einmal einen gewaltigen Schritt zurück dar, sodass diese Tatsache viele Außenstehende, nicht nur Personalchefs, an der Souveränität des Absolventen zweifeln lassen könnte. Dem ist nicht so! Im Gegenteil, gerade diese ungewöhnliche Vita weckt nicht selten das Interesse des Gegenübers und bringt von den unterschiedlichsten Seiten Lob und Anerkennung ein.